Ne bis in idem – und das Wettbewerbsrecht

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Mit zwei aktuellen Urteilen äußert sich der Gerichtshof der Europäischen Union zum Umfang des Schutzes, den dieses Verbot der doppelten Strafverfolgung („ne bis in idem„) im Wettbewerbsrecht gewährt.

  • In der Rechtssache „bpost“ wurden der Gesellschaft bpost nacheinander von zwei nationalen Behörden Geldbußen auferlegt. Im Juli 2011 wurde gegen sie eine erste Geldbuße in Höhe von 2,3 Millionen Euro von der Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängt, die feststellte, dass die von bpost ab dem Jahr 2010 angewandte Rabattregelung gegenüber bestimmten ihrer Kunden diskriminierend sei. Im März 2016 wurde diese Entscheidung von der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) im Anschluss an ein auf ein Vorabentscheidungsersuchen ergangenes Urteil des Unionsgerichtshofs1 mit einem rechtskräftig gewordenen Urteil aufgehoben, da das in Rede stehende Tarifsystem nicht diskriminierend sei. Im Dezember 2012 verhängte die Wettbewerbsbehörde gegen bpost eine Geldbuße in Höhe von etwa 37,4 Millionen Euro wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung aufgrund der Anwendung dieser Rabattregelung in der Zeit von Januar 2010 bis Juli 2011. Die Gesellschaft bpost stellt bei der Cour d’appel de Bruxelles die Rechtmäßigkeit dieses zweiten Verfahrens im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem in Abrede.
  • In der Rechtssache „Nordzucker u.a.“ ist der österreichische Oberste Gerichtshof mit einem Rekurs der österreichischen Wettbewerbsbehörde in einem Verfahren befasst, in dem festgestellt werden soll, dass Nordzucker, ein deutscher Zuckerhersteller, gegen das Kartellrecht der Union sowie das österreichische Wettbewerbsrecht verstoßen habe, und in dem gegen Südzucker, einen weiteren deutschen Zuckerhersteller, aufgrund des gleichen Verstoßes eine Geldbuße verhängt werden soll. Dieses Verfahren betrifft u. a. ein Telefonat, bei dem Vertreter dieser beiden Unternehmen über den österreichischen Zuckermarkt gesprochen haben. Dieses Telefonat wurde bereits von der deutschen Wettbewerbsbehörde in einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung erwähnt. Mit dieser Entscheidung stellte diese Behörde fest, dass die beiden Unternehmen sowohl gegen das Unionsrecht als auch gegen das deutsche Wettbewerbsrecht verstoßen hätten, und verhängte eine Geldbuße in Höhe von 195,5 Millionen Euro gegen Südzucker.

In seinen Urteilen weist der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) zunächst darauf hin, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem in den beiden Rechtssachen zweierlei voraussetzt: Zum einen ist es erforderlich, dass eine frühere Entscheidung endgültig geworden ist (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).

Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat („idem“) handelt, ist im Wettbewerbsrecht wie in jedem anderen Bereich des Unionsrechts das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Durch Gesetz können jedoch Einschränkungen der Ausübung eines Grundrechts – wie des durch das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis idem) gewährten – vorgesehen werden, wenn sie den Wesensgehalt dieser Rechte achten, erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen.

  • In der Rechtssache bpost entscheidet der Unionsgerichtshof, dass der von der Charta gewährte Schutz unter Berücksichtigung dieser Möglichkeit zur Einschränkung der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem der Sanktionierung eines Unternehmens wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht nicht entgegensteht, wenn gegen dieses im Hinblick auf denselben Sachverhalt wegen Missachtung einer sektorspezifischen Regelung (z. B. Vorschriften im Postsektor, die die Tätigkeiten von bpost regeln) bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist. Diese Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen setzt jedoch das Bestehen klarer und präziser Regeln voraus, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und die die Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen. Außerdem müssen die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt worden sein und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen muss der Schwere der begangenen Straftaten entsprechen. Andernfalls verstößt die zweite Behörde, die tätig wird, durch die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen gegen das Verbot der doppelten Strafverfolgung.
  • In der Rechtssache Nordzucker befindet der Unionsgerichtshof, dass der Grundsatz ne bis in idem dem nicht entgegensteht, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen eines Verstoßes verfolgt und mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde. Diese Entscheidung darf jedoch nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruhen. Falls dies zutrifft, verstößt die zweite Wettbewerbsbehörde, die Verfolgungsmaßnahmen im Hinblick auf diesen Zweck oder diese Wirkung einleitet, hingegen gegen das Verbot der doppelten Strafverfolgung.
  • Mit der letzten Frage in der Rechtssache Nordzucker wird der Gerichtshof zur Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem in Verfahren befragt, in denen es zur Anwendung der Kronzeugenregelung gekommen ist und in denen keine Geldbuße verhängt wurde. Der Gerichtshof weist hierzu darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem auf ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts anwendbar ist, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 22. März 2022 – C -117/20 und C -151/20

  1. EuGH, Urteil vom 11.02.2015 – C-340/13 []